zurück zur Homepage

Textbeispiel aus:

Lautsprachliche Kommunikation und ihre Beeinträchtigungen -

Praxis der Hör-Sprechbefähigung Gehörloser und Schwerhöriger

von Herbert Ludwig Breiner
 
 
Auszug aus obigem Buch  (S. 286ff)
 

Zur Entwicklung des Hörens und Sprechens bei Gehörlosigkeit/Hörbehinderung
 

Drei Wege des Sprechenlernens

1. Der Königsweg
Auch im Falle einer Hörbeeinträchtigung gehen wir zuerst immer davon aus,
dass eine optimale individuelle Versorgung mit elektro-akustischen Hörhilfen
sowie die frühe, aktive lautsprachliche Förderung es erlauben, einen Weg zu
gehen, der weit-gehend der normalen Entwicklung des Hörens und Sprechens
entspricht
(siehe S. 177).
Es wird dieser Weg  als "Königsweg" bezeichnet, nicht nur, weil er als erster
zu suchen ist, sondern weil er "auf der Höhe" unmittelbar in die Welt des
Hörens und Sprechens führt. Der Königsweg zielt über die
ganzheitlich-natürliche Förderung auf eine so hohe Differenzierung des
Hörens, dass über den auditiven, äußeren Rückmeldekreis die Sprechmotorik
normgerecht gesteuert  und kontrolliert werden kann.
 

2. Der Redundanzweg
Nicht immer kann im Fall einer Hörbeeinträchtigung die auditive Befähigung
auf normalem Weg so weit entwickelt werden, dass die sprechmotorische Lenkung
in allen Teile "sauber" erfolgt. Falls die Befähigung  des Hörens auf Zeit so
mangelhaft bleibt, dass die sprechmotorischen Produkte in Teilbereichen nicht
normgerecht erzeugt werden können, wird der "Redundanzweg" beschritten.
Die fehlenden distinktiven Merkmale des Sprachschalls werden über ein
geeignetes Sinnesvikariat zur Wahrnehmung gebracht (siehe S. 227), so dass
auf psycho-physischem Niveau der auditive Wahrnehmungsgegenstand redundant
wird, also dann ausreichend  viele Merkmale zu seiner Kennzeichnung verfügbar
sind.

Der einsetzende Prozess des Hörenlernens zielt auf die abstraktive Relevanz
solcher Merkmale, die vorher auditiv nicht entsprechend erfasst werden
konnten (siehe S.197). Die Steuerung und Kontrolle der Sprechmotorik erfolgt
nach  Erreichen der verbesserten Hörleistung wie beim Durchlaufen des
Königsweges über den äußeren, auditiven Rückmeldekreis.
 

3. Der Traditionsweg
Seit dem 18. Jahrhundert werden gehörlose Menschen sprechmotorisch befähigt,
nach alter Sprechweise ‚entstummt', ohne dass dabei das Hörvermögen eine
entscheidende Rolle spielt. Die entscheidende Rolle spielen auf dem
Traditionsweg vielmehr der Vibrationssinn (siehe S. 228 ff) und ein
ergänzendes Sinnesvikariat.
Die sprechmotorischen Vollzüge werden über das Sinnesvikariat in Gang
gebracht, wobei dieses zeitweise auch die äußere Rückmeldung zur Lenkung des
Geschehens übernimmt.
Nach ausreichendem Einüben der Vorgänge kann das Sinnesvikariat ausbleiben;
der innere Rückmeldekreis über kinästhetische Impulse des Sensoriums der
Muskeln und Sehnen leisten danach die Steuerung und Kontrolle der
Sprechmotorik.